Der Katharinentag 1944 in Rüdesheim am Rhein

Zum Gedenken an den Katharinentag 1944 in Rüdesheim am Rhein
von Leopold Bausinger
aus dem Rheingauer Heimatbrief  Folge 70 / Dezember 1969

 

November 1944. Der unselige Krieg hatte seinen Höhe­punkt längs überschritten, die Alliierten waren an der Westküste Frankreichs gelandet und ihre Heere im Vor­marsch auf Deutschland, Tag und Nacht bombardierten amerikanische und englische Flugzeuge deutsche Städte, die deutsche Wunderwaffe, von der dem Volk immer wieder vorgegaukelt wurde, blieb aus. Längst stand fest: der Krieg war für uns verloren. Das Volk sehnte das Ende herbei, ob­wohl jedem Einsichtigen klar war, daß es ein Ende mit Schrecken sein würde. Aber nur Schluß mit dem sinnlosen Krieg! Die Lebensmittel und alle täglichen Gebrauchsgegen-stände waren mehr als knapp, Hunger, Elend, Not und Tod, Blut und Tränen überall! Heizmaterial fehlte, man saß so gut es ging in der Küche um den Herd herum, an richtige Arbeit war nicht mehr zu denken. Selbst draußen im Felde wurden die Leute durch Tiefflieger beschossen. Fast täglich heulten die Sirenen, viele Stunden verbrachte die Bevölke­rung in den Kellern, kaum war Entwarnung, schon heulten an manchen Tagen die Sirenen erneut auf. Mit einem Wort: es war nervenzerreißend! Trotz allem hoffte man, daß, nachdem bisher Rüdesheim und der Rheingau von ernsten Luftangriffen verschont blieben, der Krieg für uns vollends ohne Luftangriffe vorüber gehen würde. Denn in Rüdesheim war ja keinerlei Kriegsindustrie, die Stadt war strategisch völlig uninteressant, denn selbst die seinerzeit aus strate­gischen Gründen gebaute Hindenburgbrücke spielte im zweiten Weltkrieg für den Truppentransport keine Rolle und wurde auch nie angegriffen. Die Brücke 'wurde bekannt­lich noch in den letzten Kriegstagen durch deutsche Trup­pen gesprengt, ein Wahnsinn sondergleichen! Denn damals standen alliierte Truppen längst auf dem rechten Rheinufer, und niemand konnte sie von ihrem Vormarsch ab­halten.

25. November 1944. Katharinentag! Auch an diesem Morgen heulten vormittags mal wieder die Sirenen, große feindliche Luftgeschwader waren gemeldet. Im Dunst und Nebel flogen sie wie schon so oft über den Rheingau hin­weg gen Osten. Wieder mal eilte die Bevölkerung in die Luftschutzkeller, von denen die wenigsten bombensicher waren. Mittag wurde es. Man hoffte auf baldige Entwar­nung, denn der Rückflug der Flugzeuge war bereits gemel­det. Schon hörte man das Dröhnen der Maschinen, bald also dürfte die Gefahr mal wieder vorüber sein. Aber oh Schreck, oh Graus: auf einmal krachte und bebte es, daß man meinen konnte, die Hölle wäre los gelassen.

Rüdes­heim, diese friedliche Stadt, wurde von den auf dem Rück­flug befindlichen Flugzeugen hart bombardiert. Hunderte von Spreng- und tausende von Brandbomben wurden auf die Stadt geworfen. Nur knapp 20 Minuten dauerte der An­griff. Die Folgen aber waren schrecklich. Der Marktplatz und die daran anschließende Östliche Stadt glichen einem einzigen Trümmerhaufen. Soweit Sprengbomben die Häu­ser nicht zerstörten, wurden durch die zahllosen Brand­bomben unzählige Brände entfacht. Die Lösch- und Ret­tungsarbeiten waren dadurch erschwert, daß die Zufahrtstraßen und selbst die Weinbergswege durch Bombentrich­ter unbefahrbar waren, sodaß auswärtige Hilfe erst nach Stunden einsetzen konnte. Und die wenigen örtlichen Kräfte der Feuerwehr und der technischen Nothilfe reichten bei weitem nicht aus, wobei hinzu kam, daß ein großer Teil der arbeitsfähigen Männer an diesem Tage Zum Räumungs­einsatz nach Oberlahnstein befohlen war, das Tage zuvor durch einen Luftangriff heimgesucht wurde. Wasser-, Strom-und Gasversorgung waren völlig zusammen gebrochen, das Kanalnetz war weithin zerstört. Aber das schrecklichste von allem waren die vielen Toten, die der Angriff forderte. Ganze Familien kamen um, schreckliche Bilder gab es, so z. B., wenn man den Vater mit seinen beiden Kindern im Arm tot im Keller fand, oder wenn aus dem Keller des ehe­maligen Gasthauses „Münchhof*' in der Kirchstraße und dem Rathaus benachbart über 20 Kinder und Erwachsene tot ausgegraben wurden. Der Münchhof war damals Kinder­tagesstätte, und die Kinder wurden dort von dem Angriff überrascht. In der St. Jakobuskirche wurden die Toten auf­gebahrt, nahezu 220 Tote hatte der Angriff gefordert, die Kirche glich einem Totenhaus. Als der erste Schreck vor­bei war, begann die Sorge um Verwandte und Bekannte. Wie schrecklich jedesmal, wenn es hieß: tot. Und wie glück­lich jene, die als tot geglaubte noch lebten. Wenn man sich begegnete, lautete die Frage: Leben Sie auch noch?

Draußen auf dem Friedhof mußten in tagelanger Arbeit Gräber ausgehoben werden. Die Toten sollten ihre letzte Ruhestätte in gemeinsamen Gräbern finden. Welch* traurige Fahrt dieser vielen Toten durch die zerstörte Stadt auf den Friedhof! Dort standen die Särge in langen Gräberreihen. An einem grauen Novembertag wurden sie nach kurzer Feier der Heimaterde übergehen. Die Beteiligung war ge­ring, denn noch steckte die Angst vor einem weiteren An griff der Bevölkerung in den Gliedern.

In den Tagen nach dem Angriff kamen vielfach Soldaten in sogenannten „Bombenurlaub“ Wie bitter das Wieder­sehen mit der zerstörten Heimat und noch bitterer der Ver­lust teurer Angehöriger oder von Haus und Hof! Manch einer der Soldaten meinte, draußen an der Front wäre das Leben kaum härter als hier in der Heimat.

In jenen Schreckens tagen zeigte sich in Rüdesheim wahre Hilfsbereitschaft. Viele hatten alles verloren als was sie auf dem Leihe trugen. Kein Hemd, keine Hose, keinen Löf­fel, keinen Stuhl, keine Bleibe! Nur wer es miterlebt hat, weiß von jener bitteren Armut, der viele plötzlich ausge­setzt waren, er weiß aber auch von der großen Hilfe, die von denen gewährt wurde, die nichts verloren hatten. Da­mals rückten die Rüdesheimer ganz eng zusammen, sie wurden zu einer großen Familie, es wurde brüderlich ge­teilt und geholfen. Wer Platz hatte, nahm Obdachlose auf und gewährte ihnen Heimstatt. Wer irgendwo draußen Verwandte oder Bekannte hatte, suchte dort ein Unter­kommen. Andere wiederum wurden in umliegende Dörfer evakuiert, wo sie blieben, bis sie später und zum Teil erst nach Jahren wieder ein Zuhause in Rüdesheim Fanden. Für jeden von ihnen war dieser Tag der Heimkehr jeweils ein Freudentag.

Was soll man noch schreiben über jene Schreckenstage? Von der Einrichtung einer Gemeinschaftsküche im Hotel Germania, von der Schaffung einer Notwasserversorgung, der Herstellung einer provisorischen Stromversorgung, von der Freimachung der Straßen von Schutt und Bomben­trichtern, von der Herstellung vieler Notwohnungen, aber auch von der Angst und dem Schrecken, die in Viele ge­fahren waren. Auch davon, daß in jenen Tagen viel gebetet wurde, daß in manchen Luftschutzkellern gemeinsam der Rosenkranz gebetet wurde, daß ganz Verängstigte den Luft­schutzraum von da an bis zur Besetzung der Stadt durch die Amerikaner nicht mehr verließen.

Dem ersten Angriff folgte 8 Tage später ein weiterer, wenn auch nicht im Ausmaß des ersten. Auch ihm fielen weitere Häuser zum Opfer, u. a. auch die kath. Pfarrkirche. Schrecklich jenes Bild, das den brennenden Kirchturm zeigt, aus der Flamme noch das Kreuz sichtbar, Rauch über der ganzen Stadt.

Nicht nur die bebaute Stadt, sondern auch die Weinbergs­gemarkung wurde durch zahllose Sprengbomben in Mit­leidenschaft gezogen. Der Rüdesheimer Berg hauptsächlich im Räume der Ehrenfels glich einer Kraterlandschaft. Wahrscheinlich galten jene Bomben Bingerbrück.

Weihnachten kam. Der Ruf nach Frieden drang sehn­süchtiger denn je zum Herrgott. Und immer noch tobte der Krieg weiter. Göbbels hatte ja den totalen Krieg verkündet, und die damaligen Machthaber wollten dem Feind ein Land der verbrannten Erde hinterlassen. Näher und näher rückte die Front auf den Rhein zu, deutsche Truppen waren auf dem Rückmarsch, manch einer Soldat setzte sich damals von seiner Truppe ab, es wurde ihm weiter geholfen. Der Volkssturm sollte geschlossen zurückgeführt werden, doch die Rüdesheimer blieben zu Hause, denn schon war Schwal­bach besetzt. Gründonnerstag war es dann so weit. Die ersten amerikanischen Truppen rückten von Nord-Osten in die Stadt heran. Dort bei der Weißen Muttergottes erfolgte die Übergabe der Stadt durch den Bürgermeister. Es fiel ihm nicht schwer. Als er den amerikanischen Offizier dann auf dem Marktplatz, wo alle Waffen und feststehenden Mes­ser sowie zu unrecht auch Photoapparate abgeliefert werden mußten, frug, wie es nun weiter gehe und die Antwort er­hielt: Krieg für Euch vorbei!, bedeutete dies Erlösung aus Not und Tod, zugleich aber auch der Knechtschaft des Naziregimes, Aber Rüdesheim hatte es allzu teuer erkaufen müssen. Gehe der Herrgott, daß solches Unheil nie mehr geschehe.

Oft ist schon gefragt worden, was wohl der Grund des Angriffs auf das friedliche Rüdesheim gewesen sein mag? Wie eingangs erwähnt, konnten militärische oder strate­gische Gründe nicht vorgelegen haben. Manche meinten, der Angriff wäre die Antwort der Alliierten auf die Wochen zuvor erfolgte Vereidigung des Volkssturms durch den Gauleiter Sprenger auf dem Niederwald gewesen, leh be­zweifle dies. Näher liegen dürfte, daß der Angriff gar nicht Rüdesheim gegolten hat. Denn am gleichen Tage wurden auch Eibigen und Bingerbrück angegriffen, und im Feindsender hieß es am Abend: Bingen wurde angegriffen. Was Hegt also näher als zu vermuten, daß der Angriff gar nicht Rüdesheim galt? Es war trübes, nebeliges Wetter, und wahrscheinlich konnten aus einigen tausend Metern Höhe die Angriffsziele gar nicht richtig erkannt werden. Und dann gibt es noch eine dritte Lesart. Häufig hörte man da­mals, daß Flugzeuge ihre Bombenlast, die sie beim Einflug nicht los wurden, auf dem Rückflug ziel- und planlos ab­warfen. Es war ja totaler Krieg!

Nachforschungen beim Bundesarchiv in Koblenz und beim Militärarchiv in Freiburg blieben ohne Ergebnis. Die Akten des „Imperial War Museum" in London bzw. die „britischen Staatspapiere und Kriegstagebücher der dama­ligen Zeit" sind immer noch gesperrt und werden erst im Jahre 1974 freigegeben (Schreiben des Imperial War Mu­seum in London vom 11. 11. 1969).

von Ernst Effert aus dem Rheingauer Heimatbrief Folge 121 / September 1982


Zurückblickend auf den 17. Oktober 1944 ergab sich folgende Begebenheit. Englische Bomber auf der Flucht vor deutschen Jägern warfen Ballast ab, um schneller fortzukommen. Dabei fiel ein mit Brennstoff gefüllter 1.000 Ltr.-Tank in unseren Hof, drückte eine Wand ein und zertrümmerte die Betondecke unseres Weinkellers. Der Brennstoff lief in den Weinkeller. Mein Vater und sein Hofmann Jakob Backes wollten sich nach einiger Zeit den Schaden ansehen. Als sie auf der Treppe den Lichtschalter drehten, schlug ihnen eine ungeheure Stichflamme entgegen. Im Nu brannten beide Männer lichterloh. Ein Nachbar rannte mit Decken herbei, um die Flammen zu ersticken. Man brachte die Schwerverletzten sofort ins Reservelazarett Darmstädter Hof. Jakob Backes starb noch in derselben Nacht. Er war das erste Todesopfer im Bombenkrieg von Rüdesheim.

Am 25. November, dem Katharinentag, war mein Vater soweit wieder hergestellt, daß er am Morgen entlassen und zu Hause gesund gepflegt werden sollte. Wir wollten ihm einen festlichen Empfang bereiten. Eine Gans schmorte schon im Ofen. Inzwischen war meine Cousine zum Lazarett gegangen, um meinem Vater beizustehen. Sie rief an, daß mein 6-jähriger Sohn noch einige Wäschestücke bringen solle. Ich schickte ihn damit fort. Herr Opitz als Einsatzleiter beim Roten Kreuz, rief dann an, daß er meinen Vater erst mit etwa zwei Stunden Verspätung heimholen könne, da er noch eine wichtige Fahrt zum Eltviller Krankenhaus machen müsse. Etwa zwei Stunden Verspätung.

Dann plötzlich Sirenengeheul! Meine Mutter, unser Hausmädchen und ich eilten in den Keller. Vorneweg wie immer bei Alarm unser großer Neufundländer „Rolf“. Die Sirene setzte einen Augenblick aus. In diesem Moment rief meine Mutter: „Der Junge ruft oben, gehe schnell hinauf und hole ihn herein!". Sie schob mir noch meine Handtasche unter den Arm; die Tasche, in der ich meine wichtigsten Papiere aufhob, und drängte mich zum Ausgang. Unser Mädchen ging mit, sie wollte noch schnell die Gänse füttern. Auf der Straße war nichts von meinem Bub zu sehen. Da plötzlich ein furchtbares Krachen im Westteil der Stadt. Ich rannte in den Schutzkeller des Nachbarhauses, noch eine Nachbarin fiel zur Tür herein, und schon ging alles in einem fürchterlichen Bersten und Krachen unter. Der Keller bebte und schien zusammenbrechen zu wollen. Einige fingen laut zu beten an, Kinder weinten. Nach wenigen bangen Minuten, kein Bombengeräusch mehr!

Ich wagte mich hinaus. Die Angst um meine Angehörigen ließ mich alle Gefahr vergessen. Rundherum Trümmerhaufen und lichterlohe Brände. Mein erster Gedanke: meine Mutter! Da war aber nichts mehr! Ein riesiger Krater, Trümmer und Glut! In die Stadtmitte oder zum Rhein war kein Durchkommen. Die einzige Möglichkeit, oben durch die Weinberge, über die Schmeißgasse, dem heutigen

 

 

 

Panoramaweg, um zum Schutzkeller der Firma Asbach zu gelan­gen. Andere Zivilisten hatten denselben Weg eingeschlagen, Mehr­mals suchten wir Schutz unter den Weinstöcken. Einzelne Flie­ger schössen mit ihren Bordwaffen auf alles, was sich bewegte. Wo aber war mein Vater? Wie sich später herausstellte, hatte ein Rüdesheimer ihn auf der Rheinstraße in eine Decke gehüllt stehen sehen und ihn mitgenommen.

Alle Zufahrtsstraßen in die Stadt waren durch Trümmerhaufen und lodernde Brände versperrt, so daß keine Feuerwehr aus den Nachbarorten an die Brände herankommen konnte. Später erfuh­ren wir, daß unser Hausmädchen beim Bombeneinschlag im toten Winkel gestanden hatte, und nur eine kleine Schramme am Kopf abbekommen hatte. Dabei flogen unser schwarzer Küchenherd, Eisenschienen und schwere Mauerbrocken über sie hinweg aufs heil gebliebene Nachbarhaus. Man fand das Mädchen später im Keller, auf einem Weinfaß sitzend, wieder. Ein großes Regenwas­serbassin war geborsten, das Wasser lief in den Weinkeller und das Mädchen hatte Angst vorm Ertrinken.

Noch ein unerfreuliches Ereignis erfuhren wir. Unser Hinterhaus hatte erst nach drei Stunden zu brennen angefangen. Inzwischen war alles, was nicht niet- und nagelfest war, geplündert worden. Auch die noch am Leben gebliebenen Gänse waren fort. Einiges hatte sich später wiedergefunden. Meine Mutter und unser treuer Rolf zu ihren Füßen, hatte man wie schlafend unter einem Gewöl­beteil gefunden. Vom Luftdruck getötet.

Ein gnädiges Schicksal hatte uns davor bewahrt, daß wir nicht alle umkamen. Wäre mein Vater pünktlich heimgekommen, alle hät­ten wir unter den Trümmern gelegen! So war meine Cousine im Lazarett, holte sich den Bub nach. Meine Mutter mußte eine Vor­ahnung gehabt haben, weil sie mich hinausschickte und unser Mädchen gleichfalls, da sie mitging. Später fanden wir Notunter­künfte in Unter- und Obergladbach.

Mein Mann war seit 1943 in Rußland vermißt. Als er 1947 schwer­verwundet heimkam, begannen er, mein Vater mit 2 sudetendeut­schen Männern, ein Maurerpolier mit einem jungen Maurer, die Aufräumungsarbeiten und den Wiederaufbau. Wie schwer es war, aus drei Besatzungszonen das nötige Baumaterial heranzuschaf­fen, wissen nur diejenigen, die es damals miterlebten. Aus den Trümmern entstand dann eines der ersten wieder aufgebauten Häuser in Rüdesheim.

Nach Erlebnisberichten niedergeschrieben.