Der letzte Sickingen auf der Sauerburg

aus den Rheingauischen Heimatblättern 4/1985

 von Albert Hümmerich

Wisper und Walluf, letzteres nur ein Bächlein, umfassen gleich ausgebrei­teten Armen den eigentlichen Rhein­gau, auf den Höhen der beiden Ge­wässer zog sich die in Deutschland einzigartige Fortification, das Gebück, hin. Streng genommen ist die Sauer­burg kein Gegenstand für die „Rhein­gauische Heimatblätter", denn ihre Ört­lichkeit liegt außerhalb der durch das Flußbett der Wisper scharf gezogenen Grenze. Die politischen Grenzen der Gegenwart akzentuieren die Scheide­linie noch dadurch, daß das Erdreich diesseits der Wisper zum Lande Hes­sen und jenseits zum Lande Rheinland-Pfalz gehört. Wir wollen indes keinem lächerlichen Particularismus huldigen, und nur deshalb einen benachbarten geschichtsträchtigen Ort aus der hei­matgeschichtlichen Behandlung aus­schließen, weil er einige Kilometer von der Kreisgrenze entfernt liegt.

Eine knappe Lektion erdkundlicher Unterrichtung dürfte am Platze sein. Die Sauer ist ein größerer Nebenfluß der oberen Mosel und bildet auf eine beträchtliche Länge die Grenze zum Großherzogtum Luxemburg. Im nördli­chen Elsaß gibt es nochmals ein Flüßchen mit dem Namen Sauer, franzö­sisch Sure. Eine Sauerburg, indes, gibt es an den 2 Flüssen nirgendwo, hin­gegen haben wir eine Sauerburg in einem kurzen Nebental der Wisper, das von einem Bächlein mit dem Namen Tiefenbach durchströmt wird. Verwir­rend genug! 

Von Kaub und Lorch ist unsere Sauer­burg etwa gleichweit entfernt, für rüstige Fußgänger in einer guten Stunde zu erreichen. Trotz ihrer Nähe zum Rhein und zu zweien seiner berühmten Weinstädtchen am rechten Ufer, kennen die meisten Rheinreisen­den die Sauerburg nicht einmal ihrem Namen nach. Die Burg liegt seit fast 300 Jahren in Trümmern, ihre Zerstörung fällt, mit der des Heidelberger Schlos­ses gleich, ins Jahr 1689, bei den durch fanatische Zerstörungswut gekenn­zeichneten Feldzügen Ludwigs XIV. Die massigen Trümmer und was an den Mauern und Türmen noch aufragt las­sen den Beschauer eine einst mächtige Sickingen'sche Burg erahnen. Von der höchst malerischen Umgebung ver­mag die beigedruckte Ansicht eine Vor­stellung zu vermitteln. Gibt es von den wenig erhaltenen und zahlreich verfal­lenen Burgen beiderseits des Rheins Bilder, Zeichnungen, Stiche und Litho­graphien in kaum überschaubarer An­zahl, so fehlen diese von den Burgen und Ruinen rückwärts des Stromes fast gänzlich, die hier beigedruckte Ansicht gehört zu einer Wandererzählung des rheinischen Dichters Wolfgang Müller von Königswinter und findet sich in einem Heft der Gartenlaube aus dem Jahre 1864.

 

 

Wolfgang Müller, Sohn eines Arzte und selbst Arzt, wurde zu einem der pro­duktivsten rheinischen Schriftsteller, nachdem er den Arztberuf aufgegeben und sich von dem politischen Engage­ment als liberaler Abgeordneter im Vorparlament und der Nationalver­sammlung zurückgezogen hatte. Da er einen der häufigsten Eigennamen deutscher Zunge trug, nannte er sich nach seinem Geburtsort, Müller von Königswinter, wie sich andere schriftstellernde Müllers nach ihren Her­kunftsorten nannten: Konrad Müller von der Werra, Otto Müller von Nidda, Johann G. Müller von Itzehoe. Der an Gelehrsamkeit berühmteste Müller, der Mathematiker und Kalendermacher Johann Müller aus Königsberg in Fran­ken latinisierte seinen Namen in Regiomontanus, ein Brauch der zu Wolfgang Müller von Königswinter's Zeiten aus der Mode gekommen war. Für die viel­gelesene Leipziger Wochenzeitschrift schrieb der in Köln, später in Wiesba­den lebende Dichter des Öfteren seine Berichte von unternommenen Wande­rungen und was er von Land und Leuten dabei sah und hörte.

Die Wan­derungen nach der Sauerburg war von Lorch aus unternommen worden, was die Burg und das zu seinen Füßen lie­gende Dorf Sauerthal, zusätzlich des landschaftlichen Reizes, für Fremde anziehend machte, war, daß dort 1836 der letzte Sickingen starb und auf dem Dorffriedhof sein Grab gefunden hatte. Betreffs „der letzte Sickingen" sei der Text einer Fußnote in dem Gartenlaube-Artikel auch hier angeführt: Graf Franz v. Sickingen war nicht der letzte Sickin­gen überhaupt, es gibt in Österreich noch eine Linie des Geschlechts. Wer sich dem Dorfe von Lorch herkommend nähert, findet gleich links der Straße, noch ehe er an die ersten Häuser herankommt, den Friedhof. Von den schlichten Grabmälern ragt eines durch Höhe und Alterskennzeichen hervor, ein Unbekannter ließ es setzen. Auf der Vorderseite des aus rotem Sandstein gemeißelten Kreuzes ist das Wappen und die Inschrift: Franz von Sickingen, Reichsgraf, seines Stam­mes der Letzte. Auf der Rückseite die Inschrift: Er starb im Elend. Wer dieser Unbekannte war, der sich „ein Freund vaterländischer Geschichte" nennt und das Grabmal zu nächtlicher Stunde setzen ließ, blieb lange Geheimnis und war Stoff zum Rätsel­raten. Wolfgang Müller glaubt, und das war wohl die gängige Auffassung, es sei der Archivar Habel aus Wiesbaden gewesen. Baedeker in seinem 10 Jahre später in 18. Auflage erschienen Reise­handbuch, Rheinlande, widerspricht dieser Meinung und nennt anstelle des quiescierten herzogl. nassauischen Archivars Habel den Dr. Rössel aus Idstein.

Mit dem ihm namensgleichen Reprä­sentanten echten, für edle Ziele kämp­fenden Rittertums, Franz von Sickingen auf der Ebernburg, der 1523 in Land­stuhl kämpfend das Leben verlor, hat der letzte Sproß wenig gemeinsam. Kennzeichnend für seinen Charakter ist die im Stramberg'schen Antiquarius überlieferte Begebenheit. Kaiser Franz von Österreich trug Franz von Sickin­gen, der Cameral- & Rechtswissen­schaften studiert hatte, wegen des­sen desolaten Vermögensverhältnis­sen eine gut dotierte Hofstellung an, die derselbe aber mit der Antwort ablehnte: Ein Sickingen dient nicht, er läßt sich bedienen.